Hintergründe und Historie
1)
Über die Tauschringbewegung
2) Blick in die
Geschichte
3) Neustart
in den 80'ern, Boom in den 90‘ern
4) Zahlen aus den
2000‘ern
5) Bundestreffen
6)
Weitere überregionale Initiativen
7)
Verrechnungsstellen und Online-Verwaltungen
8)
Wissenschaftliche Arbeiten
9) Quellen
1) Über die Tauschringbewegung
Prinzen, Blüten, Heller, Kiesel, Kohlen, Klunker, und vor
allem das Talent… Die ausdrucksstarken Namen für
Tauschringwährungen stehen für den Charme und das treibende Motiv der
Tauschring-Bewegung: hier lebt eine Graswurzel-Wirtschaft, hier kann
man ein bisschen Wirtschaftsleben selber machen. Durch zinslose Währung
zeigen wir den Banken die lange Nase und schlagen dem Diktat des
lohnabhängigen Arbeitslebens ein Schnippchen, indem wir die Zeit eines
Akademikers gleich bewerten mit der Zeit für's Putzen. Hier bringen
Leute ihre Talente ein und werden mit den Talenten der anderen belohnt.
Die nunmehr fast 30-jährige Tauschringbewegung bot und bietet
Marktplätze für ein anderes Tauschen; gerechter, kreativer,
ausgleichender und nicht auf Gewinnmaximierung ausgelegt. Offen ist die
Frage der gesellschaftlichen Bedeutung von Tauschringen: Handelt es
sich um kleine Spielgeldinseln oder wächst da eine ernstzunehmende
Alternative zu unserer maroden Wirtschaftsordnung heran?
2) Blick in die Geschichte
Lokale Tauschinitiativen und regionale, zinsfreie Alternativ-
oder
Komplementärwährungen entstanden und vergingen immer wieder im Laufe
der Geld-bestimmten Geschichte. Das sogenannte „Freigeld“ florierte am
stärksten in wirtschaftlichen Notzeiten.
So auch Anfang der 30'er Jahre. Aus der Depression erwuchs das
vielleicht bekannteste und erfolgreichste Freigeld-Experiment in Wörgl
(Österreich). 1932 wurden in der Tiroler Marktgemeinde, die damals 4200
Einwohner hatte, eigene Geldscheine im Wert von 32.000 Schilling
herausgegeben. Auf diesen so genannten „Arbeitsbestätigungen“ lag eine
Nutzungsgebühr von einem Prozent monatlich. Um am Ende des Monats nicht
ein Prozent des Geldes zu verlieren, sah jeder zu, dass er das Geld so
schnell wie möglich los wurde. Der private Konsum und die öffentlichen
Investitionen (z. B. in das Kanalsystem und eine Skisprungschanze)
stiegen hierdurch so stark an, dass Wörgl seine Arbeitslosenquote
innerhalb von einem Jahr um 25 Prozent senken konnte, während die Quote
im übrigen Land stieg. Als sich dann über 170 Gemeinden in Österreich
für das Modell interessierten, sah die Österreichische Nationalbank ihr
Monopol gefährdet und verbot die Verwendung des Freigeldes. [1]
Ähnlich erging es der deutschen Wära-Tauschgesellschaft, die von
1929-31 in Schwanenkirchen (Oberpfalz) bestand. Sie verhalf der
Gemeinde inmitten der Krise zu einem wirtschaftlichen Aufschwung. Auch
die Wära-Scheine wurden 1931 verboten.
Die theoretische Grundlage zu diesen und anderen Freigeld-Experimenten
lieferte Silvio Gesell (1862–1930) mit seinem Buch „Die natürliche
Wirtschaftsordnung“. Die freiwirtschaftliche Bewegung sah die Lösung
der sozialen Missstände in der Überwindung der Zinswirtschaft. Sie
strebte eine alternative Geldordnung mit ihrem gerechten, zinslosen
Geld auf gesamtgesellschaftlicher Ebene an. [2]
3) Neustart in den 80'ern, Boom in den 90‘ern
Die aktuelle Tauschring-Bewegung entstand wahrscheinlich Anfang der 80'er Jahre mit den anglo-amerikanischen LETS-Systemen. LETS steht für Local Exchange Trading System. Auch viele europäische Tauschringe führen das „LETS“ im Namen.Den Namen Local Exchange Trading System prägte vermutlich Michael Linton aus Courtenay, Kanada. In dieser Kleinstadt an der kanadischen Westküste, im Comox Valley (British Columbia/Vancouver Island), herrschte Ende der 70'er Jahre hohe Arbeitslosigkeit. Michael Linton gründete (nach differierenden Quellen 1979 oder 1983) ein soziales Netzwerk mit Tauschoption und dem Tauschmittel „Green Dollar“. Dieser erste LETS hatte bis zu 600 Mitglieder und setzte pro Jahr einen Naturaltausch-Wert von etwa 325.000 Green Dollars um. [1]
Als der allgemeine wirtschaftliche Aufschwung auch Courtenay erreichte, löste sich dieser erste Tauschring wieder auf (nach differierenden Quellen 1988 oder 1990). In der Folge verbreiteten sich Zeittausch-Systeme in den 80‘er Jahren in den USA, aber auch in Australien, Neuseeland und Großbritannien. [3]
Aus Nordamerika kam auch ein Anstoß für die Entstehung der heutigen Tauschring-Bewegung in Deutschland. Ende der 80‘er brachte der damalige Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Lothar Späth, die Idee der Seniorengenossenschaften von einem USA-Besuch mit. 1991 startete ein Förderprogramm für zehn Pilotprojekte in Baden-Württemberg. Für drei Jahre erhielten die ersten Seniorengenossenschaften finanzielle und wissenschaftliche Begleitung. Träger waren die jeweiligen Kommunen. [4], [5]
Als erster Tauschring in Deutschland gilt der „döMak“ (Döhlauer Mitarbeiterkredit), gegründet 1992 in Döhlau (bei Halle a. d. Saale). Pfarrer Helmut Becker setzte die Idee um, freiwillige Mitarbeit an einer Jugendbildungsstätte mit einem Zeitguthaben zu belohnen, das dann in verschiedenen Betrieben wieder ausgegeben werden konnte. [6]
In den 90'er Jahren boomten dann die Tauschringgründungen in Deutschland. Einen Verstärker dieser Bewegung sieht der Autor Günter Hoffmann in dem Kongress „Wirtschaft von unten – People's Economy“, der im Spätsommer 1994 in Dessau stattfand. „Hier diskutierten über 600 Teilnehmer internationale Projekte der lokalen Ökonomie. Unter anderem stellten sich erstmals Kooperationsringe aus den USA, England, Holland und der Schweiz vor. Nach dem Vorbild der amerikanischen Time-Dollar gründeten sich die ersten ‚Zeitbörsen‘ in Berlin, Chemnitz, Dresden, Hamburg, Kassel.“ [2] Ein großer Artikel im FOCUS 1996 dürfte einen weiteren Impuls für viele Neugründungen geliefert haben. Deren Autoren zählten 77 Tauschringgründungen in Deutschland von 1992 bis 96. [7]
4) Zahlen aus den 2000‘ern
Die Gründungswelle hielt bis Anfang dieses Jahrtausends an und ebbte danach wahrscheinlich ab. Im Jahr 2001 waren laut eines Artikels im Reader's Digest 35.000 Menschen Mitglied in einem von 350 Tauschringen in Städten und kleinen Gemeinden. Zur gleichen Zeit sei ihre Zahl in England auf rund 400, in Frankreich auf 100, in Holland auf 70, in Irland auf 40 gestiegen. [8]Das Tauschringportal des RTR-Gründers Klaus Kleffmann hatte im Juni 2009 knapp 350 Tauschringe in Deutschland verzeichnet [9]. 228 Tauschringe zählt bis Mitte 2010 die Seite www.tauschring.de [10]. Die regelmäßig aktualisierte Sammlung des TR Westerwald kommt auf etwa 300 Tauschringe [11]. Weitere aktuelle Sammlungen (Mitte 2013) finden sich auf der Plattform tauschringadressen.de des PIRX-Tauschrings in Heidenau [12] sowie im Tauschwiki [13].
In der Regel entstanden und entstehen Tauschringe als Selbsthilfeprojekte ohne staatliche Förderung oder gar Registrierung. Deshalb ist die tatsächliche Zahl der Tauschringe nicht ohne weiteres zu ermitteln. Betont werden muss, dass eine unbekannte, aber sicherlich große Zahl von Tauschringen aufgelöst wurde oder nur noch auf dem Papier besteht, dass ebenso eine große Zahl von Tauschringen nirgends erfasst ist.
5) Bundestreffen
Bereits 1995 organisierte Berlin-Kreuzberg das erste Bundestreffen der Tauschringe. Vertreter von 50 Tauschsystemen nahmen teil. Die Bundestreffen wiederholten sich jährlich, durchgeführt von verschiedenen Tauschringen in ganz Deutschland, bis 2005. 2006 fand erstmalig kein Bundestreffen statt; 2007 letztmalig in Kassel.Typische Themen auf den Bundestreffen bildeten die Bedeutung von Zeit- und Alternativwährungen, Erfahrungsberichte, praktische Probleme, Blicke ins Ausland und immer wieder gesellschaftspolitische Anliegen. Häufig zogen prominente Redner viele Interessierte an.
Was jedoch nicht gelang, war die Ausbildung einer Bundesstruktur, die insbesondere Klaus Kleffmann in seinem „Handbuch“ [4] forderte: „Nach über sieben Jahren der Existenz der Tauschsysteme in Deutschland werden vernünftige und tragfähige Strukturen langsam notwendig. Die jährlichen Bundestreffen sind nicht dazu geeignet, alle Fragen, Probleme und Entwicklungen zu bearbeiten und abzudecken.“ (Kapitel 8, „Die Bundesstruktur und ihre mögliche Weiterentwicklung“). Zwar wurde seit dem Bundestreffen 1997 in Kassel eine Aufgabenverteilung auf Bundesebene versucht, doch die verbindliche Ausgestaltung kam nicht zustande.
Ab 2008 wurden die Bundestreffen durch die kleinformatigeren BATTs, Bundesarbeitstreffen der Tauschsysteme, ersetzt. Federführend war zu Beginn Andreas Artmann vom TR LoWi, Münster, der die Tauschringe und ihre Arbeit in den Vordergrund stellen wollte [14]. Die BATTs fanden seither statt 2008, 2009 und 2010 in Nordwalde bei Münster, 2011 in Miesbach bei München, 2012 in Büdingen (Hessen), wo sich zusätzlich die Initiative BATT -aktiv bildete. 2013 fand das BATT -aktiv wieder in Büdingen, das BATT in Kassel statt.
6) Weitere überregionale Initiativen
1998 wurde auf dem Bundestreffen der Tauschringe in München die „Arbeitsgemeinschaft Bundesdeutscher Tauschsysteme“ BAG gegründet. Sie bestand bis zum Jahr 2000. Die BAG wollte überregionaler Ansprechpartner für Tauschringe und Lobbyist für die die Tauschringidee sein. [15]Auf dem Bundestreffen 2005 gründete sich die AG „Tauschringe im Dialog“. Diese AG beklagte den mangelnden Willen zum Austausch mit den einzelnen Tauschringen [14]. Sie löste sich 2007 auf, nachdem sie das letzte Bundestreffen der Tauschringe in Kassel ausgerichtet hatte.
Von April 2002 bis Mai 2010 erschien das Tauschmagazin, herausgegeben von Dagmar Capell (Hamburg-Harburg). Zwischen Oktober 2004 und Dezember 2007 wurde die monatliche Sendung "Tausch-Welle" auf Radio Flora ausgestrahlt. Von 2013 bis 2016 wurde das Tauschmagazin wieder von Andreas Artmann herausgegeben. https://tauschmagazin.de/tm-archiv/ Seit Anfang 2019 wird das Tauschmagazin als Blog weitergeführt. Weiterhin gab es von 1998 bis 2002 die Tauschsystem Nachrichten (TSN)- herausgegben von Klaus Kleffmann. Eine kurz Zeit gab es auch noch den Tauchblick: https://tauschmagazin.de/tauschblick-archiv/
Darüber hinaus gab und gibt es regionale Zusammenkünfte, wie etwa die regelmäßigen Umlandtreffen im Münchener Raum, die Treffen der Berliner Tauschringe, die Treffen der deutschsprachigen Tauschsysteme im Bereich Schweiz-Österreich-Deutschland oder die Regionaltreffen der Tauschkreise NRW, die bis etwa 2005 stattfanden.
7) Verrechnungsstellen und Online-Verwaltungen
Am 1.9.1999 startete der Ressourcen-Tauschrings (RTR). Sein Gründer Klaus Kleffmann begegnete damit dem „starken Wunsch, einen überregionalen Tausch von Leistungen auf die Beine zu stellen“ [16]. Er wollte auch die unkontrollierten Einzel-Außenkonten, die häufig für den Außentausch verwendet wurden und werden, überwinden. Dieser ersten größeren bundesweiten Verrechnungszentrale waren begrenzte Versuche durch LETS - Netz München oder das Tauschnetz D/ Norddeutsche Verrechnungszentrale vorausgegangen.Klaus Kleffmann leitete den RTR bis 2006. In dieser Zeit wuchs der RTR auf über 100 Mitglieder an. Im Jahr 2004 übernahm Dagmar Capell (TR Hamburg-Harburg) für einige Monate die RTR-Verwaltung; ab 2006 Andreas Artmann (TR LoWi Münster), ab 2009 Markus Schwarz (Wunstorf), ab Februar 2010 Dörte Müller (Essener Tauschkreis). Nach Austritten in den letzten Jahren und Klärung aller Mitgliedskonten zählte der RTR nach dem letzten Wechsel 2010 noch 62 Mitglieder; im August 2013 sind es 85.
Als Alternative zum RTR gründete Birgit Kargl (damals Talent-Tauschring Ulm) im Sommer 2005 die VeSTa (Verrechnungsstelle für Tauschringe). Die VeSTa legt besonderen Wert auf Transparenz und das Mitspracherecht der Mitglieder [13]. Bis 2011 hat die VeSTa eine stetige Mitgliedszahl von 22 erreicht. Ab 2010 kooperierten VeSTa und RTR durch ein gegenseitiges Transferkonto. Ende 2012 wurde die VeSTa eingestellt; eine Reihe der VeSTa-Mitgliedstauschringe schloss sich dem RTR an.
Eine weitere Verrechnungsstelle ist das 3 Länder-Clearing des Vereins za:rt. Der Verein za:rt existiert seit 1999, das 3-Länder-Clearing ist seit 2007 im Dreiländerbereich Schweiz-Österreich-Deutschland aktiv. Es wird betrieben vom Verein für Zusammenarbeit regionaler Tauschsysteme/Transaktionssysteme (Dornbirn, Österreich). Ende 2011nahmen 22 Tauschringe aus der Schweiz, Österreich und Deutschland teil. [17]
za:rt benutzt und unterstützt das anspruchsvolle System Cyclos für die Online-Verwaltung. Das Projekt Cyclos wurde 2003 gestartet. Es handelt sich um öffentlich zugänglichen Quellcode, der umfangreiche Funktionen abbilden kann. Neben den normalen Buchungen und dem Marktplatz kann Cyclos z. B. mehrere Währungen verwalten, ein individuelles Rechtekonzept realisieren, Konten abgleichen und verschiedene Kennzahlen der teilnehmenden Tauschringe betrachten. Zum Einsatz in einem Tauschring erfordert dieses mächtige, vielseitige System in der Regel die Ersteinrichtung durch einen Experten.
Cyclos ist ein Projekt der niederländischen Stiftung STRO (Social Trade Organisation). Tauschsysteme in knapp zwei Dutzend Ländern verwenden Cyclos für ihre Verwaltung – weltweit. Der Verein za:rt hat das deutschsprachige Cyclos-Netzwerk gegründet. Er will die Software damit möglichst vielen Tauschsystemen zugänglich machen. [17]. Im deutschsprachigen Raum nutzenwahrscheinlich mindestens 30 Tauschsysteme Cyclos.
Im Februar 2008 kam der Softwareentwickler Charalampos Theocharidisaus Herne mit seiner Verwaltungssoftware tauschen-ohne-geld.de heraus [18]. Hierbei handelt es sich um ein ganz auf TR-Belange zugeschnittenes Programm. Ursprünglich nur für den eigenen Tauschring (TR Bickern Unser Fritz) gedacht, erwies sich die Software als so eingängig und praktisch, dass der Betreiber die Online-Verwaltung auch anderen Tauschringen kostenlos zur Verfügung stellte. Mitte 2013 haben über 100 TRs dieses System für sich entdeckt.
Auch der Ressourcen-Tauschring führte mit dem jüngsten Leitungswechsel die Online-Verwaltung tauschen-ohne-geld ein. Hier administrieren sich die Mitgliedstauschringe weitgehend selbst und sind für Kontozugang und Marktzeitung nicht auf eine zentrale Person angewiesen. Dies erwies sich für den überregional agierenden RTR als äußerst hilfreich.
Als zusätzliches Angebot installierte Charalampos Theocharidis einen Tauschwiki. Die Idee des Tauschwiki entstand auf dem Bundesarbeitstreffen der Tauschringe (BATT) 2009. Hier soll „Wissen, das Tauschsysteme betrifft, zentral gesammelt werden. Gleichzeitig ist das Wiki auch ein Experiment: Es soll der dezentralen Struktur der deutschen Tauschringlandschaft gerecht werden und versteht sich als eine moderne Wissensplattform, auf der jeder seine Erfahrungen und Lösungen der Allgemeinheit zur Verfügung stellen kann“. [13]
8) Wissenschaftliche Arbeiten
Immer wieder ist die Tauschringbewegung, insbesondere im Kontext alternativer Wirtschaft und Währungen, Thema wissenschaftlicher Arbeiten.Eine der jüngsten Veröffentlichungen stammt vom Warwick Institute for Employment Research (IER) der University of Warwick (England). Die deutsche Mitarbeiterin Dr. Heike Behle recherchierte hierfür in der deutschen Tauschringlandschaft.
Aus den Ergebnissen dieser explorativen Studie zum Thema "Tauschringe - Erwerbstätigkeit - Internet" ("Crowdsourcing") entstand der englischsprachige Report, der hier heruntergeladen werden kann:
http://ftp.jrc.es/EURdoc/JRC85751.pdf